2015 ging es um die Welt. Das Bild des ertrunkenen Flüchtlingsjungen Alan Kurdi aus Syrien an einem türkischen Strand. Zur gleichen Zeit befanden sich auch Ehefrau und Kinder von Yahya Azrak auf ihrer Flucht aus Syrien - mit dem Boot auf dem Weg von der Türkei nach Griechenland. "Ich habe nur geweint, die ganze Zeit", sagt der heute 42-jährige Rosendahler. Denn dieser Teil ihrer Flucht, von der Türkei über Griechenland, Ungarn und Österreich bis nach Deutschland hat drei Tage gedauert. "Eineinhalb Tage habe ich nichts von ihnen gehört. Ich konnte nichts machen, ich habe mich so hilflos gefühlt. Und ich hatte immer das Bild dieses Jungen vor Augen." Dann kam der erlösende Anruf. Ehefrau Lina Homsi und den Kindern Rayan und Mustafa ging es gut. Weitere eineinhalb Tage später lagen sie sich am Münchener Hauptbahnhof endlich in den Armen. Auch wenn die Geschichte der wirklichen Ankunft in Deutschland noch viele Jahre länger dauern sollte.
Yahya Azrak wird vom Fachdienst Integration & Migration des Caritasverbandes bereits einige Jahre begleitet.Jessica Demmer / AZ Coesfeld
Anlässlich des Weltflüchtlingstages erzählt Yahya Azrak seine Geschichte, die Geschichte einer Flucht, die 2012 in Aleppo in Syrien begann und die zehn Jahre später mit der deutschen Staatsbürgerschaft in Holtwick ein gutes, friedvolles Ende gefunden hat. Begleitet wird er seit 2016 vom Fachdienst Integration & Migration des Caritasverbandes für den Kreis Coesfeld. Nach seiner Flucht aus Aleppo ging es für ihn drei Tage in die Türkei, dann für elf Monate nach Bulgarien. "Das war aber ein schwieriges Leben, es gab kaum Arbeit und Essen, und ich habe mir Sorgen gemacht um meine Familie - meine Frau und meine Kinder, damals vier und zweieinhalb - die keine finanzielle Unterstützung hatte." Dann ging er zurück in die Türkei für drei Monate. Da traf er nach fast einem Jahr endlich seine Familie wieder. "Wir haben uns ein kleines Haus gemietet, aber ich musste eigentlich nur arbeiten. Freie Zeit gab es nicht", erinnert sich Yahya Azrak, der in Syrien eigentlich Baumechanik studiert hatte. "Ich habe einen Monat lang bei der Obsternte geholfen, das war körperlich sehr anstrengend und der Chef hatte auch kein gutes Wort übrig." Er wechselte zu einem Tischler, arbeitete einen Monat dort, bekam aber kein Gehalt. "Zur Polizei zu gehen war dort aber sinnlos." Seine Frau und er überlegten, wie es weitergehen könne und es war klar: Yahya versucht sein Glück in Deutschland, seine Familie wartet zunächst in der Türkei. Eine Woche blieb er in Bulgarien, dann folgte Hamburg, wo er einen Antrag auf Asyl stellte, dann im Februar 2014 Chemnitz. Elf Monate verharrte er dort in einem Flüchtlingsheim. In einem Zimmer mit fünf anderen Männern. "Ich habe nur gegessen, geschlafen und gewartet. Ich durfte nicht arbeiten, konnte nicht die Sprache lernen. Dann kam die Ablehnung meines Antrages." Er nahm Kontakt mit einem Anwalt auf, durfte einen weiteren Asylantrag stellen, weitere fünf sorgenvolle Monate in Ungewissheit vergingen. Drei Mal versuchte unterdessen seine Familie aus der Türkei nach Deutschland zu kommen, erst der dritte Anlauf klappte. "Meine Frau hatte Angst, mit zwei Kindern war das unglaublich anstrengend. Wir dachten schon, wir hätten nie eine Chance, zusammen zu sein."
Dann folgte 2015 die Odyssee mit dem Boot, doch in Österreich endete zunächst alles. "Weder mit dem Zug noch mit dem Bus ging es weiter." Hier hatte seine Frau Glück. "Ein Ehrenamtlicher hatte die drei gesehen und wollte helfen. Schließlich nahm er meine Familie und seine eigene Frau mit und brachte sie im eigenen Auto über die Grenze nach Deutschland. In München habe ich die ganze Nacht auf sie gewartet." Mit der Familie kam neue Kraft, denn nach ihrer Ankunft wurden die Hürden nicht weniger. Seine Frau Lina stellte ebenfalls einen Asylantrag, aber in Dortmund. Er hätte eigentlich zurück nach Chemnitz gemusst. Weitere Anträge wurden gestellt, für einen Reisepass musste er zur syrischen Botschaft nach Berlin. "In all der Zeit habe ich immer geholfen, wo es ging. Ich habe übersetzt, weil ich die Sprache schon konnte." Schließlich landete die Familie in Holtwick. "Meine Familie hätte hierbleiben können, aber ich sollte zurück. Aber wo sollte ich denn hin? Ich will mit meiner Familie zusammen sein."
Auch dort hat er sich engagiert und bekam selber durch eine Rosendahler Familie Unterstützung. Schließlich erhielt seine Frau eine Aufenthaltsgenehmigung, später auch er. Sie suchten sich Arbeit, die Kinder gingen in die Schule und die Kita und sie belegten Sprachkurse, geleitet von Ehrenamtlichen. "Der Schlüssel zu Deutschland ist die Sprache und dann muss man sein Ziel wirklich verfolgen. Man darf nicht aufgeben und herumsitzen." Das alles war 2017. "Wir zogen schließlich aus einem kleinen Zimmer in eine kleine Wohnung und bekamen weitere Hilfe. Eine Nachbarin gab uns den Tipp mit der Caritas und auch dem Möbelladen." 2018 machte Yahya Azrak zunächst seinen Lkw-Führerschein. Doch die behördlichen Formalitäten nahmen kein Ende. Es brauchte einen neuen Reisepass, einen neuen Asylantrag. Besuche in der Ausländerbehörde folgten.
Die Azraks bauten sich ihr Leben auf, ohne zu wissen, ob sie wirklich bleiben durften. "Aber wir haben die Hoffnung nie aufgegeben, das ist das Allerwichtigste." Sogar ihr drittes Kind, Zaid, wurde schließlich hier geboren. 2022 endlich die erlösende Nachricht: Alle erhielten die deutsche Staatsbürgerschaft, Yahya Azrak arbeitet mittlerweile als Busfahrer in Münster, seine Frau lässt sich zur Assistentin für die Begleitung älterer Menschen ausbilden. Die Familie lebt mittlerweile in einem kleinen Haus, sogar die Schwiegereltern aus Syrien sind hierhergekommen. "Wir überlegen jetzt sogar, das Haus zu kaufen", berichtet er stolz. Ihm ist es wichtig, sich bei all den Menschen zu bedanken, die ihm und seiner Familie auf ihrem Weg geholfen haben. "Claudia Jäger und ihrem Mann zum Beispiel, Frau Mageda und allen Menschen, die mir in Holtwick zur Seite standen. Vor allen Dingen aber meiner Frau Lina für die Geduld und die Strapazen, die sie auf sich genommen hat." Kontakt zu seiner eigenen Familie, seiner Mutter und insgesamt zehn Geschwistern hat er regelmäßig. Sie wohnen im Libanon, in der Türkei oder noch in Syrien. Allerdings via Telefon. Weil er zum Militärdienst eingezogen werden würde, kann er nicht mehr zurück nach Syrien. Aber damit hat Yahya Azrak seinen Frieden geschlossen.
Der Fachdienst Integration & Migration des Caritasverbandes für den Kreis Coesfeld begleitet aktuell knapp 700 Flüchtlinge im nördlichen und mittleren Kreis Coesfeld. Seit 2016 auch die Azraks. "Es gibt aktuell viele Diskussionen in Deutschland über Demokratie und Gesellschaft, darüber, dass es bunter und vielfältiger werden soll, aber wir spüren auch Gegenwind", sagt Teamleiterin Majda Mchiche. "Dieser Gegenwind ist aber nicht gerechtfertigt. Mit der Familie Azrak wollten wir ein Beispiel für eine wirklich gelungene Integration geben. Herr Azrak arbeitet zum Beispiel in einem Job, in dem aktuell Fachkräftemangel herrscht." Der Fachdienst mit seinen aktuell fünf Mitarbeiterinnen bemühe sich nicht nur um die berufliche Integration, sondern auch um die gesellschaftliche sowie um Familienzusammenführungen.
Text: Jessica Demmer, Allgemeine Zeitung Coesfeld