Thalia Heßmann von der Fachstelle Sexualisierte Gewalt.CV Coesfeld
Thalia Heßmann:
"Was ist Ihre Meinung dazu, dass die katholische Kirche durch die Autoritätsstruktur, das Zölibat und die Sexualmoral mögliche Bedingungen für sexuellen Missbrauch geschaffen haben könnte?"
Christian Germing, Vorstand:
Es ist jetzt ziemlich genau ein Jahr her, dass die Missbrauchsstudie für das Bistum Münster veröffentlicht wurde. Nach meinem Eindruck ist seither zu wenig passiert, um strukturelle Konsequenzen zu ziehen. Ich habe mich im letzten Jahr viel mit dem Thema beschäftigt, vor allem mit Frage von Missbrauch und Gewalt in der Caritas. In Einrichtungen der Behindertenhilfe oder Jugendhilfe gab es in den 50er und 60er Jahren viele Vorfälle. Wir müssen uns immer bewusst sein, dass Gewalt und Missbrauch weit verbreitet sind. Auch in Schulen oder Vereinen gibt es Missbrauch. Und vor allem geschieht Missbrauch in Familien. Sexueller Missbrauch ist in der Regel nicht die spontane Vergewaltigung, sondern geschieht dort, wo es enge persönliche Beziehungen mit einem Machtgefälle gibt. Dies gilt für Kinder in der Familie, aber eben auch für die Missbrauchserfahrung in der Katholischen Kirche. Der geweihte Priester hat in der Katholischen Kirche eine besondere Autoritätsstellung, die nahezu unangreifbar war. Und es gibt eine weitere Besonderheit beim Missbrauch in der Kirche: Man glaubte nicht den Opfern und die Organisation hat die Täter systematisch geschützt. Dieser Schutz von Tätern hat sicherlich mit der Struktur der Kirche zu tun. Hier spielt die enge persönliche Beziehung von Priestern untereinander sicherlich eine Rolle. Da gilt die Loyalität offenbar eher dem befreundeten Täter, als dem Opfer.
Zur Frage nach dem Zölibat: Ich habe hohen Respekt vor jedem, der sich aus Überzeugung für ein Leben im Zölibat und in der Beziehung zu Gott entscheidet. Dies gibt es ja nicht nur bei Priestern, sondern z.B. auch bei Ordensfrauen. Aber ich finde es falsch, dass Leitungsämter in der Kirche nur zölibatär lebenden und geweihten Männern vorbehalten sind. Ämter in der katholischen Kirche sollten für alle Gläubigen zugänglich sein, für verheiratete Männer und vor allem für Frauen. Ob der Zölibat die Gefahr von Missbrauch verstärkt, kann ich nicht beurteilen. Schließlich gibt es Missbrauch wie gesagt auch in anderen gesellschaftlichen Gruppen oder auch der evangelischen Kirche. Auffällig ist allerdings der höhere Anteil von Jungen und jungen Männern unter den Betroffenen. Dies unterscheidet den Missbrauch in der katholischen Kirche von anderen gesellschaftlichen Gruppen, wo Mädchen und junge Frauen häufiger Opfer werden.
Die Missbrauchsstudie für das Bistum Münster hat nach meinem Eindruck die Gründe für den sexuellen Missbrauch in der Katholischen Kirche gut herausgearbeitet. Danach gibt es mehrere Faktoren, die zusammengenommen, den Missbrauch verstärkt haben. Dazu zählen insbesondere die Tabuisierung von Sexualität, die herausgehobene Stellung der Priester und der Schutz der Institution als Selbstzweck.
Leider ist sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen ein weit verbreitetes Problem. Ich bin daher sehr dankbar, dass wir mit der Fachstelle sexualisierte Gewalt eine spezialisierte Beratungsstelle haben. Ich danke Ihnen und Ihren Kolleginnen ganz herzlich für diese wichtige Arbeit.